Pflege und Betreuung durch Angehörige – Vorteil oder Nachteil?

Wir sind angekommen im Zeitalter des demografischen Wandels. Was seit Jahren als Folge des Überalterungsprozesses prognostiziert wird, hat bereits heute vielfältige Auswirkungen auf die Gesellschaft der Schweiz. Während die Zahl der über 64-Jährigen stark zunimmt, sinkt die Zahl der jungen Leute stetig. Damit einhergehend werden immer mehr Menschen pflegebedürftig. Ihnen gegenüber stehen immer weniger Pflegekräfte und steigende Kosten in Alten- und Pflegeheimen. Wer also wird diese Menschen künftig pflegen?

Pflegende angehörige helfen am Essenstisch

Angehörige am Limit

Ganz schnell sind wir da bei der Pflege durch Angehörige, der Pflege durch Geschwister, Kinder, Enkel, aber auch Nachbarn oder Freunde. Angehörige leisten in der Schweiz insgesamt rund 64 Mio. Stunden unbezahlte Arbeit für die Betreuung und Pflege von nahestehenden Personen. Der Wert dieser Arbeit beträgt 3,5 Mia. Franken. (Studie: «Zeitlicher Umfang und monetäre Bewertung der Pflege und Betreuung durch Angehörige», BASS, 2014)
Was sich nach einer einfachen Lösung des Problems anhört, ist eine grosse Herausforderung für alle Beteiligten und mündet nicht selten in Überbelastung, denn die verantwortungsvolle Aufgabe fordert viel Zeit und Kraft.

Die positiven Aspekte: 

  1. Pflegebedürftige werden nicht aus dem vertrauten Umfeld herausgerissen.
  2. Durch den Familienzusammenhalt erfährt der Pflegebedürftige mehr Wertschätzung.
  3. Pflegebedürftige können, je nach körperlichen und geistigen Fähigkeiten, weiterhin gewohnten Tätigkeiten nachgehen.
  4. Der Tagesablauf kann zu Hause individueller als in einem Pflegeheim gestaltet werden.
  5. Pflegebedürftige müssen sich den Vorgaben einer Einrichtung nicht anpassen.
  6. Die Pflege zu Hause ist kostengünstiger.

Die negativen Aspekte:

  1. Angehörige leiden unter psychischer und physischer Belastung, die u.U. bis zum Burnout führen kann.
  2. Oft mangelt es an Erfahrung mit Pflege.
  3. Bei der Unterbringung in der Wohnung von Angehörigen kann eine sehr beengte Wohnsituation entstehen.
  4. Die eigene Wohnung ist in der Regel nicht behindertengerecht ausgestattet.
  5. Die erforderliche Ausstattung ist mit hohen Investitionen verbunden.
  6. Bei Erkrankung der pflegenden Angehörigen besteht die Gefahr einer Mangelversorgung.
  7. Wenn Pflegebedürftige alleine leben und die sozialen Kontakte wegfallen, kann es zu Vereinsamung kommen.
  8. Wenn pflegende Angehörige zusätzlich Beruf und Familie unter einen Hut bekommen müssen, besteht oft keine Zeit mehr für eigene soziale Kontakte.
  9. Eine 24-Stunden-Pflege ist nicht möglich.

Natürlich möchten Pflegebedürftige meistens lieber von ihren Angehörigen als in einer Pflegeeinrichtung versorgt und gepflegt werden. Sie möchten nicht aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen werden, sich nicht an neue Personen gewöhnen müssen. Und eigentlich ist Familie da, um in schwierigen Zeiten zusammenzuhalten.
Der Grossteil der Angehörigen fühlt sich damit aber überfordert und alleine gelassen. Viele leiden unter Depressionen, die schlimmstenfalls in Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit führen können. Auch Gewalt in der Pflege ist ein ansteigendes Problem. Was von aussen so selbstlos aussieht, kann hinter den Kulissen zu Isolation und Verzweiflung führen.

Wie kann der Überbelastung entgegengewirkt werden? 

Bei steigenden Zahlen von Pflegebedürftigen ist die Gesellschaft auf Mitwirkung der Angehörigen angewiesen. In Zukunft wird die private Pflege immer mehr an Bedeutung gewinnen. In der Schweiz gibt es viele Entlastungsangebote: Beratung und Hilfe zur Pflege, zu finanziellen Belangen oder auch dazu, was man selber für sich tun kann. Der Bundesrat hat als Teil seiner gesundheitspolitischen Prioritäten Gesundheit2020 den «Aktionsplan zur Unterstützung und Entlastung von betreuenden und pflegenden Angehörigen» 
verabschiedet.

Wenn pflegende Angehörige offen dafür sind, diese Angebote anzunehmen, kann daraus eine für alle Seiten sehr bereichernde Zusammenarbeit entstehen, die sowohl den Pflegebedürftigen als auch den pflegenden Angehörigen neue Perspektiven verleiht.